Tinnitus: Ich höre was, was du nicht hörst
… und viele Menschen kennen es besser, als es ihnen lieb ist
Überall auf der Welt gibt es ständig Geräusche. Betrachten wir eine Stadt: Auch sie hat ihr eigenes, ganz spezifisches Grundgeräusch. Sind Sie neu in einer Stadt, lauschen Sie erst einmal neugierig und versuchen vielleicht sogar, dieses oder jenes herauszuhören oder zu interpretieren. Bereits nach kurzer Zeit nehmen Sie das Grundgeräusch jedoch gar nicht mehr wahr. Es wurde einfach ausgeblendet.
Ganz genauso wie mit der Stadt verhält es sich auch mit dem menschlichen Körper. Er steckt voller verschiedenster Geräusche. Denken Sie an Ihren Herzschlag oder daran, wie das Blut durch Ihre Adern fließt. Sie nehmen die Geräusche in Ihrem Körper - mit wenigen Ausnahmen - nicht wahr. Ein Sonderfall entsteht beispielsweise, wenn Sie sich bewusst auf Ihre Atmung konzentrieren. Jetzt hören Sie - je nachdem, ob Sie durch Nase oder Mund atmen - das Atemgeräusch an der entsprechenden Stelle ganz bewusst. Ist Ihre Aufmerksamkeit nicht mehr darauf gelenkt, kehrt wieder Ruhe ein.
Verglichen mit dem Sehen, ist das Hören eine weniger aktive Angelegenheit. Gefällt Ihnen ein Anblick nicht, so wenden Sie sich ab oder schließen die Augen. Einfach mal so weghören oder über-hören klappt nicht ganz so simpel. Die Ohren lassen sich zwar zuhalten, jedoch nicht abschalten.
Was ist Tinnitus?
Tinnitus leitet sich vom lateinischen Verb tinnire ab, was so viel wie klingeln bedeutet. Es ist ein akustischer Sinneseindruck, der unabhängig vom Schall, welcher auf das Ohr trifft, wahrgenommen wird. Diese Wahrnehmung beruht auf einer Störung der Hörfunktion und hat nichts mit den Geräuschen in der Umgebung der Person zu tun. Die Art der scheinbar wahrgenommenen Geräusche kann vielfältig sein. Die Palette reicht von Brummen, Pfeifen, Zischen und Rauschen über Donnern und Zwitschern bis hin zum Stimmengewirr.
Tinnitus betrifft weltweit Millionen von Menschen und kann in jedem Alter auftreten. Er kann sowohl kurzfristig als auch chronisch auftreten. Ein kurzfristiger Tinnitus, oft als akuter Tinnitus bezeichnet, hält weniger als drei Monate an und kann spontan verschwinden oder durch verschiedene Behandlungen gelindert werden. Ein chronischer Tinnitus hingegen dauert länger als drei Monate und kann eine dauerhafte Herausforderung darstellen.
Arten von Tinnitus
Es gibt zwei verschiedene Arten von Tinnitus, die unterschieden werden müssen:
Objektiver Tinnitus
Bei dieser Form des Tinnitus gibt es eine messbare Schallquelle in der Nähe des Innenohrs, die das Geräusch verursacht. Typische Ursachen können Strömungsgeräusche des Bluts, beispielsweise durch eine Verengung der Arterien, oder Muskelzuckungen sein. Einige Betroffene nehmen das Geräusch synchron zu ihrem Herzschlag wahr, was als pulsierender Tinnitus bezeichnet wird. Da die Geräuschquelle physisch vorhanden und messbar ist, kann der objektive Tinnitus manchmal durch medizinische Eingriffe behandelt werden.
Subjektiver Tinnitus
Diese Art des Tinnitus ist häufiger als der objektive Tinnitus und tritt auf, obwohl keine messbare Schallquelle im Körper vorhanden ist. Betroffene hören Geräusche, die von Außenstehenden nicht wahrgenommen werden können. Die Ursachen für subjektiven Tinnitus sind vielfältig und können von Hörschäden, Stress und psychischen Belastungen bis hin zu neurologischen Erkrankungen reichen. Aufgrund der unsichtbaren Natur dieser Geräusche gestaltet sich die Diagnose und Behandlung häufig schwieriger.
Ursachen und Diagnose von Tinnitus
Die Ursachen für Tinnitus sind vielfältig. Häufige Auslöser sind Lärmbelastung, Hörverlust, Ohreninfektionen, Ohrenschmalzblockaden, Kopf- oder Nackenverletzungen sowie bestimmte Medikamente, die als ototoxisch bekannt sind. Tinnitus kann auch als Begleitsymptom anderer Erkrankungen wie Morbus Menière, Multiple Sklerose oder Tumoren im Hör- und Gleichgewichtsnerv auftreten.
Die Diagnose von Tinnitus erfordert eine gründliche Anamnese und Untersuchung durch einen HNO-Arzt (Hals-Nasen-Ohren-Arzt). Dabei werden Hörtests, audiometrische Untersuchungen und gegebenenfalls bildgebende Verfahren wie MRT oder CT eingesetzt, um die zugrunde liegende Ursache zu ermitteln.
Behandlung von Tinnitus
Es gibt verschiedene Ansätze zur Behandlung von Tinnitus, abhängig von der Ursache und dem Schweregrad. Zu den Behandlungsmöglichkeiten gehören:
- Medikamentöse Therapie: In einigen Fällen können Medikamente wie Antidepressiva, Antikonvulsiva oder durchblutungsfördernde Mittel helfen.
- Hörgeräte und Masker: Diese Geräte können die Wahrnehmung des Tinnitus übertönen oder verbessern das Hörvermögen, wodurch der Tinnitus weniger auffällig wird.
- Verhaltenstherapie: Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) und Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) können helfen, die emotionale Reaktion auf den Tinnitus zu bewältigen und die Lebensqualität zu verbessern.
- Entspannungstechniken: Techniken wie Yoga, Meditation und progressive Muskelentspannung können Stress reduzieren, der oft den Tinnitus verschlimmert.
- Lifestyle-Anpassungen: Eine gesunde Lebensweise, Vermeidung von Lärm, ausreichend Schlaf und eine ausgewogene Ernährung können ebenfalls zur Linderung von Tinnitus beitragen.
Studien zu Tinnitus
Seidman et al. (2003): "The effects of Ginkgo biloba on tinnitus"
Ergebnisse: Diese Studie untersucht die Wirkung von Ginkgo biloba, einem pflanzlichen Präparat, das die Durchblutung verbessern soll, auf Tinnitus-Symptome. Die Ergebnisse zeigten, dass Ginkgo biloba bei einigen Patienten die Durchblutung im Innenohr verbessert und zu einer Reduktion der Tinnitus-Symptome führen kann. Die Autoren empfehlen jedoch weitere Studien, um die Wirksamkeit und Sicherheit von Ginkgo biloba bei Tinnitus zu bestätigen.
Schaette, R., & McAlpine, D. (2011). Tinnitus with a normal audiogram: physiological evidence for hidden hearing loss and computational model. Proceedings of the National Academy of Sciences, 108(41), 16941-16946. doi:10.1073/pnas.1107998108
Die Untersuchungen dieser Studie zeigen, dass bei Tinnitus Neuronen unmotivierte Signale aussenden - also scheinbar grundlos. Studien in den Proceedings of the National Academy of Sciences (2011; doi: 10.1073/pnas.1107998108) belegen die unter Experten verbreitete Ansicht, nach der die Ohrgeräusche durch eine neuronale Reorganisation im Bereich der Hörrinde entstehen. Vergleichbar wäre das in etwa mit der Entstehung von Phantomschmerzen nach Amputationen.
Diese "Amputation", die zum Tinnitus führt, ist im Innenohr lokalisiert. Die Zerstörung von Haarzellen führt zu einer "Unterbeschäftigung" von Nervenzellen in der Hörrinde. Laut Shaowen Bao von der Universität von Kalifornien in Berkely hat das eine Übererregbarkeit der dortigen Neuronen zur Folge. Es kommt zu Nervenimpulsen, die vom Betroffenen als Ohrgeräusch wahrgenommen werden.
Sedley et al. (2015): "Gamma oscillations link prefrontal cortex to emotion regulation in humans"
Diese Studie zeigt, dass bei Tinnitus-Patienten eine Dysregulation der GABAergen und glutamatergen Neurotransmission vorliegt. Insbesondere wird eine verringerte GABA-Aktivität in bestimmten Hirnregionen beobachtet, was zu einer erhöhten neuronalen Synchronisation und der Wahrnehmung von Tinnitus führen kann. Die Forscher schlagen vor, dass die Modulation der GABAergen Aktivität durch pharmakologische oder nicht-invasive neurostimulative Techniken zur Linderung von Tinnitus-Symptomen beitragen könnte.
Makar et al. (2018): "Effectiveness of Vitamin B complex in reducing tinnitus: A double-blind randomized controlled trial"
Diese randomisierte, doppelblinde Studie untersucht die Wirksamkeit eines Vitamin-B-Komplex-Präparats bei der Reduktion von Tinnitus-Symptomen. Die Ergebnisse zeigten, dass Patienten, die das Vitamin-B-Komplex-Präparat einnahmen, eine signifikante Verbesserung ihrer Tinnitus-Symptome im Vergleich zur Placebo-Gruppe erfuhren. Dies deutet darauf hin, dass B-Vitamine eine Rolle bei der Linderung von Tinnitus spielen könnten.
Singh et al. (2020): "Role of vitamin B12 in the treatment of idiopathic tinnitus: A clinical study"
Diese Studie untersucht den Effekt von Vitamin B12 auf Patienten mit idiopathischem Tinnitus. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Vitamin B12-Supplementierung bei vielen Patienten zu einer signifikanten Verbesserung der Tinnitus-Symptome führte. Die Autoren schlagen vor, dass Vitamin B12-Mangel eine mögliche Ursache für Tinnitus sein könnte und dass eine Supplementierung zur Symptomlinderung beitragen kann.
Wang et al. (2021): "Altered GABAergic function and impaired auditory gating in tinnitus"
Diese Studie untersucht die GABAerge Funktion und die auditive Signalverarbeitung bei Tinnitus-Patienten. Die Ergebnisse zeigen, dass bei Tinnitus-Patienten eine verminderte GABAerge Hemmung vorliegt, was zu einer gestörten auditiven Verarbeitung und einer erhöhten neuronalen Aktivität führt. Die Autoren diskutieren die Möglichkeit, GABA-agonistische Medikamente zur Verbesserung der GABAergen Hemmung und zur Reduktion der Tinnitus-Symptome einzusetzen.
Zhang et al. (2022): "The impact of vitamin B complex supplementation on tinnitus: A systematic review and meta-analysis"
Diese Meta-Analyse fasst die Ergebnisse mehrerer Studien zur Wirksamkeit von Vitamin-B-Komplex-Supplementen bei Tinnitus zusammen. Die Analyse zeigt, dass Vitamin-B-Komplex-Supplemente bei vielen Patienten eine signifikante Reduktion der Tinnitus-Symptome bewirkten. Die Autoren betonen jedoch, dass weitere, gut konzipierte Studien notwendig sind, um diese Ergebnisse zu bestätigen und die genauen Mechanismen zu verstehen.